Das Ende des NSU-Prozesses. Ein Blick von Hamburg nach München. Und zurück.

Der folgende Artikel der Initiative wurde zuerst in dichthalten dem Newsletter des Ermittlungsausschusses Hamburg veröffentlicht: 

 

Hamburg ist sehr gut darin, sich zu feiern. Hamburg feiert Fatih Akin für den Erfolg seines Films „Aus dem Nichts“, der in einer fiktiven Geschichte auf verschiedene Ereignisse im Zusammenhang mit dem so genannten „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“ referiert. Hamburg hat St. Pauli und St. Pauli hat die Vibes, um sich nach außen als „weltoffen“ und aufregend verkaufen zu können. Hamburg ist in erster Linie sehr gut in der Produktion seines eigenen Images, auch wenn der Realitätsverlust dabei größer nicht sein könnte. Die Menschen, die den Stoff für dieses Image liefern, bekommen in der Regel keine Preise, sondern Repression zu spüren oder Ignoranz – schwer zu beurteilen, was schlimmer ist. Als Ali Taşköprü nach der Ermordung seines Sohnes Süleyman Taşköprü zwei hellhäutige junge Männer beschrieb, die sich vom Tatort entfernten, wurde er zunächst nicht ernstgenommen.¹ Im Zuge der Ermittlungen wurden er und seine Familie zu den Hauptverdächtigen – wie alle Familien der vom NSU ermordeten und verletzten Menschen ohne weiß-deutsche Positionierung. Süleyman Taşköprü wurde am 27. Juni 2001 in seinem Laden in der Schützenstraße in Hamburg-Bahrenfeld ermordet. Über ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis einige seiner Angehörigen die Kraft fanden, sich an die Öffentlichkeit zu wenden.²

Es ist 2018. In diesem Jahr ist mit dem Ende des Münchener Prozesses und damit mit der Verurteilung von fünf mehr oder minder prominente Nazi-Täter*innen zu rechnen. Die Urteile werden inzwischen für Juli erwartet; ein kurzes Spektakel, ein paar Talkshows, wenn es hochkommt und dann ist endlich Ruhe.

 

Es ist die drohende Gefahr eines gesellschaftlichen Schlussstrichs, eines juristisch legitimierten Schweigens, die uns dazu veranlasst hat, uns als Initiative zusammen zu schließen, hör- und sichtbar zu sein, aktiv anzuklagen und Forderungen zu stellen.  Wir haben uns als „Initiative für die Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü“ im November 2017 gegründet und haben bereits zahlreiche Unterstützende, die ebenfalls keinen Schlussstrich ziehen wollen. Wir können nicht für die Familie sprechen. Wir versuchen, sie in ihren Bedürfnissen zu unterstützen und darüber hinaus Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen, was auch bedeutet: Das Nicht-Geschehene einzufordern. Wir werden gefragt, wie wir von Hamburg nach München blicken. Es mag dazu unterschiedliche politische Einschätzungen geben. Faktisch erwarten wir nicht viel. Der beim Mord an Halit Yozgat mutmaßlich anwesende V-Mann-Führer Andreas Temme musste – wie viele seiner Kolleg*innen – nie unter Eid aussagen, die Neonazistrukturen an den Tatorten waren nie von Interesse und die Angehörigen werden auch im Juli nicht erfahren haben, warum gerade ihr Vater, Bruder, Sohn oder Freund ermordet wurde. Bereits der Prozess wird weder den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht noch den moralischen Anforderungen an eine Gesellschaft, die die Täter*innen hervorgebracht, gedeckt und auf unterschiedliche Art und Weise – nachweisbar ist hier mindestens Rassismus – unterstützt hat.

 

Das Ende des Münchener Prozesses ist für uns kein Ende der Aufklärung, kein Ende des Erinnerns, kein Schlussstrich. Wir fangen gerade erst an. Es sind die Kämpfe um Deutungen, um selbstbestimmtes Erinnern und um gesellschaftliche Konsequenzen, die wir nun weiterzuführen haben. Was damit einhergeht und bereits seit Jahren vor allem durch zivilgesellschaftliche Akteure geleistet wird, ist die umfassende Aufklärung des NSU-Komplexes. Wenngleich auch wir Ibrahim Arslans politische Forderung, die Betroffenen müssen „Hauptzeug[*inn]en des Geschehens“ sein³, teilen, so sind wir der Auffassung, dass die nun anstehenden Kämpfe nicht von den Betroffenen allein geführt werden müssen. Sie dürfen niemals ohne sie geführt werden, aber die Aufgabe, Aufklärung voranzubringen, eine rassistische Gesellschaft zu entlarven und letztlich zu verändern, ist die Aufgabe aller, die in dieser Gesellschaft leben und davon profitieren – sei es nur dadurch, noch am Leben zu sein.

 

Wenn wir von Hamburg nach Hamburg blicken, sagen wir: Hamburg, für dich gibt es keinen Preis, solange du nicht anerkennst, dass deine Behörden rassistische Ermittlungen geführt haben und Verbindungen zu Hamburger Neonazis den Mord an Süleyman Taşköprü möglich gemacht haben. Einen von uns geforderten parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen, ist dabei noch lange nicht ausreichend für eine Nominierung, sondern eine Selbstverständlichkeit – die notwendige, aber längst nicht die hinreichende Bedingung für den Versuch einer Aufklärung. Wir fordern zusätzlich eine unabhängige Untersuchungskommission mit umfassenden Befugnissen. Die Berufung dieser Kommission muss unter Beteiligung der Familie Süleyman Taşköprüs erfolgen. Darüber hinaus erwarten wir, dass sich der Senat der Hansestadt Hamburg bei der Familie Süleyman Taşköprüs für die auf rassistischen Stereotypen basierenden Verdächtigungen und Ermittlungen und für die Missachtung ihrer Aussagen entschuldigt sowie sie angemessen entschädigt. Zukünftig müssen Polizei und Staatsanwaltschaft in Fällen von Gewalt gegen Migrant*innen und People of Color einen rassistischen Hintergrund in Betracht ziehen, bis das Gegenteil bewiesen ist. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen bei der Aufklärung durch zuständige staatliche Institutionen, die in Teilen eher vertuschend als aufklärend agiert haben, bleiben wir staatlichen Untersuchungen gegenüber misstrauisch. Es ist deshalb notwendig, dass Zivilgesellschaft, Medien und Öffentlichkeit in Fällen von Gewalt gegen Migrant*innen und People of Color ebenfalls misstrauisch bleiben gegenüber beschwichtigenden, verharmlosenden und ein rassistisches/neonazistisches Tatmotiv verleugnenden Einschätzungen von Polizei und Staatsanwaltschaft und ihrerseits weiterführende Untersuchungen betreiben.

 

Wenn wir von Hamburg nach Hamburg blicken, geht es auch um Allianzen mit anderen Betroffenen von Rassismus. Für Hamburg gibt es keinen Preis und keinen Schlussstrich solange nicht jeder mutmaßlich rassistisch bedingte Todesfall aufgeklärt ist, solange auch nur eine einzige weitere rassistische Polizeikontrolle stattfindet und solange auch hier der Mord an Oury Jalloh nicht als solcher bezeichnet werden darf⁴.

 

Wir fordern euch auf, unsere Forderungen zu unterzeichnen und am Tag der Urteilsverkündung mit uns auf die Straße zu gehen.

 


 ¹ https://www.nsu-watch.info/2013/09/protokoll-37-verhandlungstag-23-sept-2013/

² Aysen Tasköprü hat 2012 einen eindrucksvollen Brief an den Bundespräsidenten verfasst.

³ Vgl. ak Heft 632, Nov 2017, S.3.

⁴ Wir beziehen uns auf mehrere Vorfälle, bei denen das Aufhängen von Transparenten mit dem Satz „Oury Jalloh – von deutschen Polizisten ermordet“ mit staatlicher Repression beantwortet wurde. Vgl. u.a. https://www.welt.de/regionales/hamburg/article170778728/Hamburger-Polizei-entfernt-Oury-Jalloh-Banner-von-Roter-Flora.html